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9.1. Vektorräume
und Vektoren |
Zu Beginn dieses Kapitels betrachten wir den unter einem neuen
Gesichtspunkt. Dabei ist es zweckmäßig, das "alte" Modell - die
Elemente des sind die Punkte der
Zeichenebene - durch ein anderes zu ersetzen: Jetzt stellen wir uns unter einem
Element
einen Pfeil vor, der im Koordinatenursprung (0,0) beginnt und mit seiner
Spitze im Punkt (x, y) endet. Das Zahlenpaar (4,2) etwa hat also im
neuen Modell die folgende Gestalt:
Einerseits betont die Pfeildarstellung geometrische Verhältnisse - so wird
z.B. der Nullabstand eines Punktes als Länge des zugehörigen Pfeils sichtbar -
andererseits lassen sich Manipulationen der Punkte in der Pfeildarstellung besonders gut nachvollziehen. In der folgenden Animation etwa kann die Pfeillänge verändern; man achte dabei auf die Änderungen in den
Koordinatenwerten:
Eine weitere Animation stellt das durch zwei Pfeile erzeugte Parallelogramm
zusammen mit der Hauptdiagonalen dar
("Parallelogrammgesetz der Kräfte"). Ändert man einen der Pfeile
(durch Ziehen der Spitze) so stellt sich die Diagonale neu ein; sie läßt
sich also als ein Ergebnis der beiden Ausgangspfeile deuten.
Die in den Applets beobachtbaren Verhältnisse weisen den Weg zu einer Rechenstruktur
des : Es wird eine sinnvolle
Möglichkeit geben
- Zwei Zahlenpaaren des ein drittes Zahlenpaar als Ergebnis zuzuweisen.
- Ein Zahlenpaar und einen reellen "Längenfaktor" zu einem
neuen Paar zusammenzurechen.
Dieses Vorhaben setzen wir mit der Einführung des Begriffs Vektorraum
zunächst in allgemeiner Form um. In einem ersten Beispiel wird dann der , und damit auch der ,
konkret mit der oben angedeuteten Rechenstruktur versehen.
Definition: Es sei V eine Menge auf der zwei
Rechenoperationen
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erklärt sind.
Das Tripel (V, + , · ) heißt eine (reeller) Vektorraum
(bzw. ein linearer Raum), falls die folgenden Regeln (Axiome)
erfüllt sind:
(V1) |
+ ist assoziativ
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(V2) |
+ ist kommutativ
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(V3) |
Es gibt ein neutrales Element mit für alle .
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(V4) |
Zu jedem gibt es ein inverses Element mit .
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(V5) |
für alle
.
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(V6) |
für alle
und .
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(V7) |
für alle
und .
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(V8) |
für alle
und .
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Die Elemente von V nennen wir Vektoren und die
Rechenoperation + die Vektoraddition (auf V); die reellen
Zahlen heißen in diesem Zusammenhang Skalare, die Rechenoperation
· die skalare Multiplikation (auf V).
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Beachte:
Mit dem Eingangsbeispiel ist i.w. bereits eine ganze Gruppe von gleichartigen
Vektorräumen gegeben, und zwar sind dies die Räume . Wir notieren ihre Elemente von jetzt an im Fettdruck: x,
y,... und wählen für die Koordinatendarstellung die
traditionelle, senkrechte Form:
. Üblich sind auch andere Darstellungen,
etwa die Verwendung von Pfeilornamenten (
... ) oder Frakturbuchstaben ( ... ).
Zentrales Beispiel (1): Es sei . Setzt man für und :
(Koordinatenweises Addieren)
(Koordinatenweises Multiplizieren)
so ist ein Vektorraum. Dabei ist
-
der Nullvektor.
-
der zu x
inverse Vektor (Koordinatenweiser Vorzeichenwechsel).
-
(Koordinatenweises Subtrahieren).
Beweis: Es sind die Vektorraumaxiome (V1) bis
(V8) nachzuweisen, eine einfache, aber langwierige Aufgabe. Entscheidend sind dabei die Rechengesetze in .
(V1):
Mit dem Assoziativgesetz für + in erhält man:
.
(V2): Mit dem Kommutativgesetz für + in erhält man:
.
(V3): ist neutral bzgl. +, also hat man:
.
(V4): Mit dem oben festgesetzten Vektor errechnet man:
.
(V5): ist neutral bzgl. ·, man kann also schreiben:
.
(V6): Hier benutzen wir das Assoziativgesetz für · in :
.
(V7): Nach dem Distributivgesetz in gilt:
.
(V8): Wir setzen noch einmal das Distributivgesetz ein:
.
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Die auf den Koordinatenachsen des liegenden Vektoren spielen für die weiteren Untersuchungen eine wichtige Rolle;
einige von ihnen zeichnen wir durch einen Namen aus:
Die Vektoren
heißen die natürlichen Einheitsvektoren des .
Ihre Koordinaten sind nur mit 0 oder 1 belegt, genauer gilt etwa für die j-te
Koordinate des i-ten Einheitsvektors :
.
Für den kommen wir noch einmal auf
das zu Beginn eingeführte Pfeilmodell im zurück. Hier lassen sich die
Rechenoperationen mit Vektoren sehr gut geometrisch darstellen und interpretieren. Die folgenden Skizzen beschreiben
die vier grundlegenden Situationen. Bei der Differenz beachte man, dass ist.
Zentrales Beispiel (2): Für eine beliebige
Menge A bezeichne
die Menge aller reellwertigen Funktionen auf A. Setzt man für
und :
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so ist ein Vektorraum.
Dabei ist
- Die Nullfunktion 0 der Nullvektor.
- Die Funktion -f der zu
f inverse Vektor.
- f - g ist die
Differenz zweier Funktionen.
Beweis: Die Vektorraumaxiome (V1) bis (V8) sind jetzt bestimmte
Rechenregeln für Funktionen. Als solche sind sie bereits alle in Kapitel 4.4.
bewiesen!
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Mit den Räumen
steht uns, analog zu den Räumen , eine ganze Gruppe von Vektorräumen zur Verfügung. Konkrete Beispiele sind etwa
, oder allgemeiner , ,
aber auch , der Vektorraum aller Folgen.
Im nächsten Abschnitt werden wir weitere Vektorräume erhalten, indem wir
gewisse Teilsysteme von betrachten.
Die acht Vektorraumaxiome stellen einen recht umfangreichen Katalog von
Bedingungen dar; es ist daher zu erwarten, dass Vektorräume eine reiche
algebraische Struktur haben.
Die folgenden Rechenregeln lassen sich direkt aus
den Axiomen ableiten.
Bemerkung: Es sei (V, + , · ) ein
Vektorraum, dann gilt für :
-
, für
-
, für
-
Ist , so besitzt jede Gleichung der Form genau eine Lösung:
.
Beweis:
Zu 1.: Da 0 + 0 = 0, folgt aus dem
Distributivgesetz (V7):
Zu 2.: Ähnlich zu 1. argumentiert man hier mit dem zweiten
Distributivgesetz (V8):
Zu 3.: "" steht in 1. und 2.
Für die Richtung "" sei gegeben. Falls , hat man: .
Zu 4.: Wir benutzen (V5) und (V8):
Zu 5.: Aus dem bisher Gezeigten ergibt sich mit (V6):
Zu 6.:
Zu 7.: Dieses Distributivgesetz läßt sich auf (V7)
zurückführen:
.
Zu 8.: Analog zu 6. erhält man diese Behauptung aus 5.
Zu 9.: Die Äquivalenz ergibt sich wie gewohnt durch Auflösen nach x.
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Wir beschließen den einführenden Abschnitt mit einem weiteren Beispiel und stellen den kleinsten Vektorraum, den sog. Nullraum vor.
Bemerkung und Definition: Es sei 0 ein
beliebiges Element. Durch die Festsetzung
werden zwei Rechenoperationen
erklärt, die trivialerweise die Axiome (V1) bis (V8) erfüllen. Der
Vektorraum ({0}, + , · ) heißt der Nullraum. Er ist
einelementig und überdies der einzige (reelle!) Vektorraum mit endlichen
vielen Elementen:
Ist ( V, + , · ) nicht der Nullraum, so gibt es
eine injektive Abbildung von nach V.
Beweis:
Da V nicht der Nullraum ist, gibt es in V einen Vektor . Durch die Festsetzung f(n)
:= nv ist eine Funktion
gegeben. Wir weisen f als
injektiv nach: Sei dazu nv = mv, also
(n - m)v = 0. Da ist,
muss n - m = 0 sein, d.h. aber:
n = m.
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